KENN NARDI – trauma

In der Regel kaufe ich eigentlich nie digitale Musik. Wenn, dann nur in Verbindung mit einem physischen Release. Da muss es sich schon um einen absoluten Ausnahmekünstler handeln und klar wie Kloßbrühe sein, dass es sich hierbei um fantastische Musik handelt. Dieser Ausnahmemusiker hört auf den Namen Kenn Nardi und ist leider nur den Wenigsten bekannt. Besonders Geschmacksichere kennen ihn noch als Sänger und Gitarristen der Thrash Metal Band Anacrusis aus St. Louis, Missouri. Zugegebenermaßen keine konventionelle Thrash Metal Band, was einen Erfolg auf breiter Ebene verhinderte. Auf den vier zwischen 1988 bis 1993 erschienenen Sahnescheiben wurden stets die Grenzen des im Thrash Metal musikalisch Machbaren ausgelotet. Das bedeutete aber nicht, dass diese Scheiben nur schwer zugänglich waren. Im Gegenteil: bei aller Härte und allerlei technischen Sperenzchen gab es immer genügend Platz für Wiedererkennungswert und einprägsame Melodien. Das lag nicht zuletzt auch an Kenns charismatischem Gesang. Auf der einen Seite melodisch und gefühlvoll, und auf der anderen Seite kommt wie aus dem Nichts ein spitzer Schrei und es geht nicht weniger aggressiv weiter…ein Alleinstellungsmerkmal.

Neben den ein oder anderen Reunionsauftritten mit Anacrusis wie etwa beim Rock Hard Festival oder beim kultigen Keep It True Festival tritt der Gute glücklicherweise seit 2014 auch als Solokünstler in Erscheinung. Als damals das Comeback Album „Dancing With The Past“ erschien, war die Freude groß. Kein Wunder, denn das Material schloss geradezu nahtlos an den letzten Schwanengesang „Screams And Whispers“ (1993) an. Und das wohlgemerkt auf einer Länge von einer 24 Songs umfassenden Doppel CD, welche in einer Auflage von 1000 Stück auf Divebomb Records erschien. Seitdem sind sieben weitere Jahre vergangen und deswegen verwundert es nicht, dass in diesem Herbst wieder eine Doppel-CD über Divebomb Records erscheinen wird. Diesmal aber nur mit schlappen 19 Songs. 13 Songs umfassen das reguläre Album, die verbliebenen sechs sind zwei zusätzliche neue, ebenfalls gelungene, Kompositionen, und je zwei Neueinspielungen von Songs der letzten beiden Anacrusis Alben.

Wie bei „Dancing With The Past“ handelt es sich bei „Trauma“ ebenfalls im wahrsten Sinne des Wortes um ein Soloalbum. Das heißt, neben Gesang und Gitarre hat der Meister auch alle anderen Instrumente selbst eingespielt. Lediglich das Schlagzeug kommt (leider) aus der Konserve, was aber nicht weiter stört und lange nicht so steril und zu Tode getriggert daherkommt, wie so manches „echte“ Schlagzeug wesentlich bekannterer Bands. Einen „musikalischen“ Unterschied zu Anacrusis sehe ich eigentlich nur darin, dass manche Songs von Kenn „orchestraler“ ausfallen, was auf einen etwas vermehrten Einsatz von Keyboards zurück zu führen ist. Gleich nach dem Eingangsriff folgt ein erster spitzer Schrei und los geht die musikalische Tour de Force …“Clarion Call“ ist ein typischer Opener und hätte so auch auf seinen beiden direkten Vorgänger sein können. Sehr melodisch, immer wiederkehrende, irrwitzige Gitarrenläufe und einen sehr prägnanten Refrain. Etwas flotter geht es mit „Masquerade“ weiter. Interessanter Songaufbau, in dessen Verlauf das Tempo im Mittelteil gedrosselt wird, nur um dann von einem markerschütternden Schrei und Gangshouts eingeleiteten furiosen Gitarrensolo wieder an Fahrt aufzunehmen. Großartig.

Das vorab veröffentliche „Trauma“ ist dann wieder etwas gemächlicher und entpuppt sich als echter Ohrwurm, der trotz Tempolimit das Niveau der ersten Songs hält. Deutlich ruppiger geht es mit dem garstigen „Time For Tears (Dry Your Eyes), welches neben Stakkato Riffs mit verstörenden Klaviermelodien aufwartet. Versöhnlicher, da melodischer, wird es dann wieder mit „A Reckoning“. Insgesamt aber trotzdem eine ziemlich düstere Nummer. Bis zum erlösenden Gitarrensolo in der Mitte des Songs geht es in „Blessed Are“ immer noch sehr beklemmend und wieder etwas ruppiger weiter. Das immer wiederkehrende, von tiefer gestimmten Gitarren getragene Riff tut sein Übriges dazu. Mit dem luftigen, orientalisch anmutenden „Quiet Wars“ fällt endlich etwas mehr Licht in die Dunkelheit. Nicht zuletzt das abschließende Gitarrensolo versprüht sogar ein wenig Pink Floyd Magie…selbstverständlich wird man abermals mit einem bis ins Mark gehenden Schrei aus seiner Lethargie gerissen…gerade rechtzeitig, um von der Doublebass Hammer „Shed My Skin“ förmlich mit gerissen zu werden. Obwohl in der Natur der Sache liegend ein richtiger Hassbatzen, wirkt diese oldschoolige Nummer, inklusive eines eruptiven Gitarrensolos, geradezu wie ein Befreiungsschlag. „Grace And Greater“ ist dann wieder einer dieser Rettungsanker, der zurück in ruhige Gewässer führt. Samt im positiven Sinne des Wortes gefälligen Refrain und gefühlvollen Gitarrenharmonien. Schööööön!

„No Surprise“? Nein, wirklich nicht…dass wir wieder mit Doublebassgeballer aus der Tiefenentspannung gerissen werden…allerdings im Wechsel mit hochmelodischen Parts. Das mit einem schweren Riff beginnende „Absence Of Presence“ ist eine durchgehend melancholisch ruhige Komposition. Der Chorus ist geradezu als lieblich zu bezeichnen. „Light Up The Shadows“ ist das komplette Gegenteil davon: ein richtiges Groovemonster! Cooles Bassintro, coole Riffs, coole Gangshouts, cooler Mittelteil, cooles (schräges) Gitarrensolo…cool, cool, cool. Cooler Song, der den Weg zum Grand Finale ebnet, dem über elfminütigen orchestralen „Orphan“. An dieser Stelle mache ich mir das jetzt einfach. Dieser Longtrack beherbergt die Essenz aller zwölf vorangegangenen Songs in einem. Das Spiel von Licht und Schatten. Er lädt ein zum Erschauern, Verzweifeln, Trauern, Rasen, aber auch Hoffen, Fistraisen, Headbangen und stimmt in letzter Konsequenz versöhnlich. So soll es sein! Wie bei guter Musik, im Leben, und in der Welt, in der wir leben und wo wir manchmal auch „Waisen“ (= Orphan) sind. Jahreshighlight.

Wertung: 9,5/10
Autor: Michael Staude