KISS

Newcastle, Utilita Arena, 14.07.2019


Nachdem wir also an unserem zweiten Tage schon früh beschlossen haben, wir könnten unseren langen Wochenendtrip bei der Anzahl an Weisheiten und Kultur als Bildungsreise bei der Steuer absetzen, müssen wir dafür natürlich den Worten auch Taten folgen lassen. So genehmigen wir uns ein Tagesticket für den Busverkehr in der britischen Hafenstadt und machen uns zu der wohl coolsten Sehenswürdigkeit auf, dem “Angel Of The North“. Das haben wir schon seit unserem Iron Maiden Trip vor zwei Jahren auf unserer To-Do-Liste und heute ist es endlich an der Zeit, da auch endlich mal das Wetter passt. Soviel Kultur macht natürlich auch irgendwann durstig und so setzen wir unseren Bildungstrip mit flüssigen, britischen Köstlichkeiten fort und überbrücken so sinnvoll unsere Wartezeit, bis wir uns auf den Weg zur Utilita Arena machen. Dort angekommen, erwartet uns… naja vor allem mich eine lange Einlasstortur. Das lag aber an meiner eigenen Dusseligkeit, denn das Personal an den zahlreichen Körperscannern auf dem Vorplatz arbeitet kompetent, professionell und freundlich die vor ihnen stehenden Menschenschlangen ab und keiner muss hier lange warten. Nach dem obligatorischen Schlenker über den Merchstand entern wir die gut, aber nicht ausverkaufte Mehrzweckhalle, vor der vor fünf Tagen noch Rock Legende Rod Steward auf der Bühne stand.

Als Warm-up haben sich die vier geschminkten Glam- / Hardrocker etwas ganz besonderes auf die Bühne geholt. Zu Klängen von Guns ‘n’ Roses, Elton John und Kiss malträtierte der gefragte US Performance Künstler David Garibaldi seine schwarzen Leinwände mit unzähligen Pinseln und malte in beeindruckender Geschwindigkeit drei Wahnsinnsbilder von den genannten Künstlern inklusive dem Hauptact des heutigen Tages. Der Sechsunddreißgjährige kombinierte Musik und Kunst in einer wirklich coolen Show.

Zurück in der Arena ist es nach der kurzen Zigarettenpause endlich soweit und die vier Buchstaben, wegen denen alle hier sind, prangen in überdimensionalen Lettern auf dem schwarzen Vorhang: Kiss, während zu den Klängen von Led Zeppelins “Rock And Roll” die Anspannung steigt. Mit einem Knall und Feuerwerk fällt der Vorhang und das New Yorker Quartett legt mit “Detroit Rock City” die Messlatte für den heutigen Abend ziemlich hoch. Starchild Paul ist stimmlich zu Beginn noch nicht ganz auf der Höhe, sodass der Demon zu seiner Rechten hier gleich mal gesangstechnisch für einzelne Zeilen einspringt. Das tut der Stimmung aber keinen Abbruch, denn weiter geht es mit “Shout It Out Loud”, der in einem Publikumsspiel unter Anleitung von Paul mündet. Im Hintergrund zum nächsten Krachersong “Deuce” gibt es alte Livevideos der Band zu sehen – sehr geil gemacht und super passend. Überhaupt ist die Bühnenshow über, neben und hinter den Vieren eine gigantische Augenweide. Die riesige, mehr als zehn Meter hohe, sechseckige Videoleinwand macht einen alleine schon sprachlos, dazu noch viel Feuerwerk und eine unglaubliche Lasershow, die beispielsweise bei “Say Yeah” die Halle in ein riesiges Lichtermeer verwandelt – absolut beeindruckend, mehr gibt es zu dieser tollen Show nicht zu sagen. “I Love It Loud” und “Heaven’s On Fire” performen die vier in gewohnter Professionalität und zeigen, dass Gene, Paul und Eric auch mit über sechzig noch lange nicht zum alten Eisen gehören. Zu “War Machine” bringt Gene eine Feuerspuck Einlage und erntet damit mächtig Applaus. Das anschließende “Lick It Up” wird noch durch einen kurzen The Who Ausflug  “Won’t Get Fooled Again” zu einem weiteren Highlight, bevor es über “Calling Dr. Love” zu “100.000 Years” kommt. Letzterer wird durch ein erstklassiges Schlagzeugsolo gekrönt, bei dem Eric auf einem Podest in die Richtung Hallendecke fährt. Hatte ich schon erwähnt, wie geil diese Kiss Show der (hoffentlich nicht) letzten Tour ist? Jeder Cent, ah sorry Penny haben sich jetzt schon gelohnt. (Tino Sternagel-Petersen).

Zwei Stunden Show sollen es werden, und erst zehn Songs sind gespielt. Eine ähnliche Ansage wie auf ihrem ersten Livealbum “Alive” bringt Paul zu “Cold Gin“, während auf zwei Risern Tommy und Gene in Richtung Hallendach gefahren werden, Gene dabei mal rechts, Tommy links. Immer wieder schlabbert Gene mit seiner Zunge. Beim Duell mit Tommy berührt er dabei seinen Mund und spuckt danach angewidert aus. Er liefert schon ein sehr klares Bild, dieser Screen im Back. Für Tommys Einlage im Solo, wo Feuer aus dem Hals seiner Flying V schießt und irgendwo in Schussrichtung auf der Bühne etwas explodiert, braucht man keine Großbildübertragung, denn den Trick kann man mit bloßem Auge erkennen. Ab “God Of Thunder” setzt Gene nun auf seinen Bass in Axtform, natürlich gleich mit Blutspuckeinlage, bevor er auf einem Podest noch einmal in die Höhe gefahren wird. In “Psycho Circus“ greift Gene gesanglich noch einmal Paul unter die Arme. An sich jedoch keine uncoole Sache, im Konzert zusätzlich mal seine Stimme in den Songs von Paul zu hören. Nach “Let Me Go Rock ‘n’ Roll“ lässt Paul von der Audienz seinen Namen rufen und fliegt wie auf ihrer Tour 1997 an einem Seil durch die Halle, um auf einem Podest am Mischpult “Love Gun“ mit mehr Posen als Spiel zu performen. Und weil es ihm dort so gut gefällt, bleibt er für das in Europa unvermeidliche “I Was Made For Loving You” gleich dort, bevor er auf gleichem Weg wieder auf die Bühne zurückkehrt.

Noch einmal Zeit für Drummer Eric Singer, sich in den Vordergrund zu stellen, der zusammen mit allen “Black Diamond” singt und für die erste Zugabe “Beth” an einem glitzernden Piano sitzt. Weil sich die Band danach ausgiebig verabschiedet, könnte man schon meinen, am Ende der Show angelangt zu sein. Aber nein, Paul sagt seinen Song “Crazy Crazy Nights” an, zu dem riesige   Luftballons mit dem Kiss-Logo in die Menge fallen, bevor schließlich das unverzichtbare “Rock ‘n’ Roll All Night” angestimmt wird. Megabomben von Konfetti- und Luftschlangen, welche die komplette Sicht zur Bühne verhindern, beschließen das ganz sicher nicht effektarme Konzert. Der Pyromann feuert noch einmal alles ab was er noch hat, dass wir definitiv von einem bombastischen Finale sprechen müssen. Gene kündigte im Vorfeld an, dass Kiss niemals irgendetwas kleines machen. Damit hatte er definitiv recht. Die Utilita Arena roch eigentlich die ganze Zeit nach Sylvester. Der Menge muss es gemessen an den Reaktionen gefallen haben, denn die geschätzt 8000 Kehlen waren sehr deutlich zu hören. Schon immer stand der Showaspekt bei Kiss im Vordergrund und gemessen daran, dass Paul Ende sechzig und Gene siebzig Jahre alt sind, schauen wir über musikalische Schwankungen hinweg. Nach fast einhundertdreißig Minuten wird das Hallenlicht angeknipst, es schallt “God Gave Rock ‘n’ Roll To You II” aus den Boxen und zufriedene Gesichter verlassen die Halle. Die Zeit wird es zeigen, ob es wirklich ihre letzte Tour war. (Joxe Schaefer).

Autor: Tino Sternagel-Petersen, Joxe Schaefer
Pics: Tino Sternagel-Petersen